Sonntag, 21. Dezember 2014

Am Rand der Klippe

Von Sabine

Alles schon gedacht. Jede Gestalt schon verbraucht. Gestaltwandlerin ohne Gestalt. Verzweifelt gehe ich einen Schritt vor und blicke über den Rand der Klippe. Mich schwindelt und ich taumle wieder zurück.

Alle meine Gedanken aufgebraucht… Ich erinnere mich daran, Wasser gewesen zu sein, verschwendet in einer wahllosen Dummheit der Jugend, Berge in einer Schlacht zu dunkler Stunde, Feuer in verzweifelter Not, Sturmwind, um ein Kind Drachen steigen zu lassen. All dies schon vor langer Zeit und nun versuche ich an etwas zu denken, einen Aspekt, den ich noch nicht gedacht habe. Doch so sehr ich auch versuche mich davon zu überzeugen, dass die glitzernden Wogen des Meeres etwas anderes sind als die Sturmwellen, die ich einmal war, will mein Kopf nicht hören. Ich habe über Gebühr gelebt.



Alle bekannten Vögel, den Adler zum Kämpfen, den Falken zum Erkunden, den Raben zum Überbringen von Nachrichten über nahende Winter, selbst den Zaunkönig, um zu lauschen und zu sehen.

Alle Insekten, die Spinnen zum Spionieren, all die Bodenkriecher zum Entkommen in verzweifelten Situationen, die Libelle aus reiner Freude an ihrem schwerelosen Flug. Ah, wie verschwenderisch bin ich damit umgegangen, die Auswahl ist so unerschöpflich erschienen…

Die Bücher, die ich bei mir trug, je eines über die Tiere des Himmels, der Erde und des Wassers, fünf über die Insekten, wie hätten diese jemals enden sollen? Sie schienen nicht abzunehmen und wenn es immer länger dauerte, nach unverbrauchten Gestalten zu suchen – was machte das schon, bei tausenden von Seiten?

In der Ferne ist ein hohler Laut zu hören, wie fernes Klagen - die Jagdhörner. Zwischen all diesen Formen habe ich kaum je meine eigene innegehabt. Ich atme ein, ringe verzweifelt nach Luft, aber diese Brust erscheint mir viel zu schmal, um frei zu atmen.

Wer einmal Sturm gewesen ist, wer einmal Tiger oder Flutwelle, wer einmal Fels und Drache, wer einmal Luft und einmal Wasser gewesen ist, dem wird eine so kleine Gestalt nie wieder genügen. Nacht zieht auf und mit ihr ein kalter Wind, der das Heulen von Jagdhunden in sich trägt.

Dies ist das Ende. Meine Gedanken kreisen um sich selbst, kein fantasievoller Ausweg fällt mir noch ein, von denen es früher in meinem Kopf im Überfluss gegeben hat.

Vor mir der Abgrund. Hinter mir meine Feinde. So viele…

Abgerissene Gedanken wehen durch meinen Kopf an all meine Feinde und all meine verlorenen Freunde und Gestalten.  Meine Flucht ist vorbei.

Da ist noch eines… eine Möglichkeit. Ich scheue vor ihr zurück, denn sie wäre das letzte Eingeständnis, dass meine Situation ausweglos ist. Ich blicke über die Klippen. Weit unter mir schäumt Wasser zwischen spitzen Steinen.

„ICH war auch einstmals Meerwasser.“, spucke ich dem Meer trotzig entgegen. „Ich war auch einstmals Klippen!“

Doch das war. Einstmals. In manchen Gestalten hat es mir beinahe das Herz gebrochen, das Wissen, sie wieder aufgeben zu müssen. Auf Jahre habe ich mich verloren in diesen Gestalten, habe Leben darin gelebt, aus denen mich nur meine Not oder die anderer getrieben hat.

Die Sonne berührt das Meer. Ein letzter zu kurzer Atemzug. Es ist soweit. Ich werde die letzte Gestalt annehmen, die ich noch nicht verbraucht habe, die ich mir aufbewahrt habe bis jetzt, für genau diesen Zweck. Ich werde sie nicht wieder verlassen, werde in ihr verharren und geduldig warten. Auf das, was andere schon so viel früher ereilt. Würde ich diese Gestalt verlassen, bliebe mir nichts mehr, außer meiner zu kleinen Menschenform. Unmöglich, so zu leben, mit nur noch EINEM Gesicht. Besser, in der letzten fremden, neuen Gestalt zu leben. Besser, in dieser fremden, geduldigen Gestalt zu sterben, als auf ewig in den zu engen Nähten des eigenen Körpers gefangen zu sein. Ich nicke. Mein Entschluss ist gefasst, war es schon, als meine Feinde mich immer enger umkreisten und meine Fluchtgestalten immer spärlicher wurden.

Ich blicke in die Sonne, warte,  bis sie runde Kreise in meine Sicht gebrannt hat. Und lasse los.

Äste brechen aus meinem Kopf, meinen Armen und Fingern, Wurzeln beißen sich tief in den brüchigen Grund. Schreie und Rufe verhaken sich zwischen meinen Blättern. Die Borke ist dicht und ummantelt mein Herz. Das schlägt. Langsam. Und langsamer. Dann bin ich Holz und Blatt und schmecke Stein und alles andere gerinnt und wird unwichtig. Hier stehe ich. Für immer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen