Sonntag, 21. September 2014

Halbschatten

Von Katharina

Sie war nervös. Es war nicht ihr erster Auftrag, dennoch hatte sie die Nervosität nie verlassen. Sie spähte die Straßen entlang. Keine Obhut zu sehen, nur selten schwebte beinahe lautlos ein Luftschiff über ihr vorbei. In den mittleren Ebenen der Stadt war es um diese Uhrzeit immer ruhig, hier befand sich der idyllische Wohnbereich der Primas. Man fühlte sich hier sicher – und war es auch, schon die Ebene zu betreten, erwies sich als schwierig für jeden, der unter den Primas stand. Ein gewöhnlicher Malefikant würde es niemals wagen, hier einzudringen, und wäre er wahnwitzig genug, würde er scheitern.

Sie jedoch gehörte der Vereinigung der Penumbra an. Die Vereinigung spannte sich über den ganzen Planeten, und ihre schiere Größe war auch ihre Macht. Die Stadt Sverige war nur eine der vielen Städte, in denen Penumbra wirkte, und Naomi selbst war nur ein kleines Zahnrad in dem gesichtslosen Machtkonstrukt, das jede Stadt zu fürchten wusste. Sie blieb einen Moment fasziniert stehen und schaute von der Straße hinab. Einem normalen Stadtbewohner war eine solche Aussicht selten vergönnt. Die mittlere Ebene der Stadt bestand aus vielen säulenartigen Bereichen, in denen sich hauptsächlich Wohnungen, aber auch einige Büros und Einkaufsmeilen sammelten. Verbunden waren diese Ebenen durch breite Straßen, und von vielen Stellen konnte man auf die Stadt hinunterblicken, konnte man die Stadt überblicken, die sich bis zu dem vom Nachtlicht entflammten Horizont zog und danach noch Meilen über Meilen weiterführte, bis zu der Stadtgrenze von Norvegr. Blickte man über das Geländer der Straße hinab nach unten, konnte man den Boden nicht mehr erkennen. Nicht einmal im hellsten Tageslicht wäre der Boden von hier zu erkennen gewesen, Ebenen schachtelten sich immer tiefer und tiefer und bildeten die stinkenden Innereien der Stadt.

Hier dagegen ließ es sich gut leben. Das hatte auch seinen Preis, und diesen konnten sich nur die Primas und Ultras leisten. Und wer Prima war, wusste viel. Dieses Wissen hatte sie heute auch hierher geführt, denn um materielle Reichtümer ging es selten bei ihren Aufträgen. Wichtiger waren Informationen, die hier in Form gut versteckter Datenpakete lagerten, und auf die Penumbra angewiesen war. Sie warf einen raschen Blick auf ihren Sensor, der um ihr Handgelenk befestigt war, und überprüfte alle Daten. Sie war beinahe am Ziel. Keiner befand sich auf der Straße, und die kleinen Sicherheitsbots, die hier patrouillierten, interessierten sich dank ihrem Sensor, der Anti-Lichtwellen produzierte, nicht für sie. Vor Lebewesen versteckte sie diese Technologie nicht, über die wahrscheinlich nur Penumbra allein verfügte, doch vor elektronischen Augen wurde sie verborgen. 

Am Ende der Straße begann ein Wohnbereich, vor dessen feinen Fassaden grüner, nie betretener Rasen wuchs, so starr und langweilig, dass er aus Plastik hätte sein können. Rechts und links der Hauseingänge standen fein säuberlich gestutzte Büsche. Sie musste noch eine breite Treppe, gesäumt von kleinen Statuen, die Elche darstellten, hinauf, dann befand sie sich vor ihrem Zielobjekt. Sie kauerte sich neben die Tür und tippte Befehle in den Sensor. Die Tür selbst war mit einem Energiefeld gesichert. Ein winziges Licht blinkte kurz an ihrem Sensor. Das Energiefeld war deaktiviert. Die Tür glitt auf und Naomi verfloss mit den Schatten im Haus.

Ihre Geschichte bei Penumbra war eine von vielen, war eine, die häufig erzählt wurde, die deshalb jedoch nicht weniger wog. Ihre Geschichte begann, als ihr altes Leben endete. Es endete überraschend und dennoch vorhersehbar: Es endete damit, dass sie dachte, es besser, es anders meistern zu können als die anderen, und daran scheiterte. Vor allem endete es aber damit, dass sie sich nicht mit ihrem Scheitern zufrieden geben wollte und einen Weg wählte, den die meisten nicht einschlagen konnten und nicht einschlagen wollten. Ihr Leben endete, und begann, mit Amelie.

Sie bewegte sich lautlos und verschmolz mit den Halbschatten der Wände. Durch die Fenster fiel das fahle Nachtlicht. Sich in der Dunkelheit zu bewegen, fiel ihr nicht schwer. Ganz im Gegenteil, mittlerweile war die Dunkelheit ihr bester Freund geworden, auch wenn die Schatten den bitteren Beigeschmack nie verloren, der der Schwärze immer anhaften würde für jemanden, der in Finsternis aufgewachsen war. Während die meisten Menschen nach wie vor Nachtbrillen brauchten, um im Dunkeln zurechtzukommen, war sie mittlerweile auf derartige Hilfsmittel nicht mehr angewiesen. Nachdem sie einige Aufträge erfolgreich für Penumbra erledigt hatte, hatte man bioneurale Modifikationen durchgeführt, wie es bei vielen Rekruten der Fall war. In ihrem Fall verbesserte man ihre Augen, damit sie auch im Dunkeln sehen konnte. Sie gehörte der Truppe der Assassinen und Schattenjäger an, die neben den Sturmtruppen, Ingenieuren, Wissenschaftlern und Luftgleitern eine der größten Truppen der Penumbra war. Ihre Arbeit erfolgte im Verborgenen, in den Schatten der Nacht und lieferte das Wissen und die Schätze, auf denen die anderen Bereiche weiter aufbauten. Vernichteten zuweilen aber auch, um Penumbra zu schützen. Wie lange Penumbra schon existierte, wer es eigentlich gegründet hatte und warum, wusste niemand wirklich. Zumindest sagte man es den niederen Rängen nicht. Aber es funktionierte, und deshalb existierte es weiter.

Sie schlich die kahlen Korridore entlang, deren Kühle nur ab und an von einem Gemälde oder einer kleinen Pflanze unterbrochen wurde. Ihre Pläne hatten sie zu diesem Gebäude geführt, doch wo genau sich die Dateien befanden, musste sie selbst herausfinden. Sie hatte Erfahrung darin, Verstecke zu finden, und sie kannte die meisten Orte, an denen Menschen ihre Informationen oder Wertsachen sicher glaubten. Deshalb machte sie sich kaum Hoffnungen, als sie den Hauptterminal des Hauses gefunden hatte. Nur aus Routine machte sie sich die Mühe, zu überprüfen, ob sich darauf die Daten befanden. Während ihr Gerät scannte, blickte sie sich weiter in dem Raum um.

Amelie war ihr Grund gewesen, sich Penumbra anzuschließen. Ihre kleine Tochter, ein Geschenk des Lebens, das sie sich nicht leisten konnte. Sie lebte damals noch im Innersten von Sverige, und dort war die Stadt eine wahre Bestie. Ihr Leben hatte sie bis dahin bestritten wie es die meisten taten – durch Mundraub, durch Prostitution, bestimmt von Gewalt. Viele Kinder wuchsen im Bauch der Bestie auf – sie selbst war eines davon gewesen. „Kinder ohne Sonne“ nannte man sie, weil nur im Hochsommer einige Sonnenstrahlen bis hinab, hinab zu ihnen reichte. Die Kinder ohne Sonne waren verlorene Kinder, wuchsen in Gewalt auf, die sie später selbst verbreiteten. Den Zirkel der Nacht zu durchbrechen schafften die wenigsten. Naomi hatte einmal gedacht, sie könne es schaffen. Als dieses kleine Wesen in ihr heranwuchs, wollte sie alles dafür geben, hinaufzusteigen, aus dem Moloch zu entkommen und ihrer kleinen Amelie eine Chance zu geben, die so viele nicht hatten, aber jeder bekommen sollte. Sie versuchte vieles, war sich für nichts zu schade. Wollte ihr Geld sparen, doch das rann ihr wie Wasser durch die Finger. Und wurden ihre Sorgen zu groß, und stieg ihr alles über den Kopf, so gab sie auch ihre letzten Reserven aus, verfiel wieder ihrer Drogensucht. Sie versuchte, ordentliche Arbeit zu finden, doch einer Frau, noch dazu einer, die ein Kind trug, gab man keine. Zu schwach, zu anfällig. Sie schaffte es nicht. Sie scheiterte an den Hürden der Gesellschaft, an ihrer eigenen Schwäche, sie scheiterte an der unerbittlichen Realität. Sie kam nicht heraus und war schon davor, sich damit abzufinden, Amelie als ein Kind ohne Sonne, ohne Zukunft aufwachsen zu sehen.

Wie sie vermutet hatte, waren auf dem Terminal keine relevanten Daten gespeichert. Sie wanderte weiter durch das Haus und fand bald das Arbeitszimmer. Sie tastete an dem weißen Schreibtisch herum, ob sich dort versteckte Datenports befanden. Ihr Instinkt wurde belohnt, wenn auch nicht so, wie sie erwartet hatte. Unter dem Schreibtisch befand sich ein kleines Schloss, beinahe nicht zu erfühlen, in das Aluminium eingelassen. Sie stutzte, legte sich unter den Schreibtisch, und bestätigte ihre Vermutung. Es war tatsächlich ein Schloss, ein altmodisches, mit Schlüsseln zu öffnendes Schloss. Ein kluger Schachzug... Wer konnte heutzutage noch Schlösser knacken? Sie musste lächeln und zog einen Dietrich aus der Tasche. Penumbra hatte ihr viel gelehrt.

Ihre Geschichte bei Penumbra begann am tiefsten, am dunkelsten Punkt ihres Lebens. An einem Punkt, der von so viel Verzweiflung geprägt war, dass sie alle Möglichkeiten ergriffen hätte, Amelie ein gerechteres Leben geben zu können. Sie kannte Penumbra schon zuvor, kannte sie als Terroristen, als Meuchelmörder, Staatsfeinde und Verräter. Verschwendete nie weitere Gedanken daran, denn im Moloch hatte man weit andere Sorgen als Staatsfeinde. Bis sie eines Tages einen Mann davon erzählen hörte, dass Penumbra nicht in allem schlecht sei.

„Man kann über sie sagen, was man will. Aber eines wenigstens bekommen sie auf die Reihe: Sie kümmern sich verdammt noch eins um ihre Leute. Nicht wie unser unfähiges Pack an Primas und Ultras, die nichts tun als zu schlemmen, zu saufen und zu huren. Sie geben ihren Leuten eine Chance, sich zu beweisen, und geben ihnen Sicherheit und Versorgung!“ Er schmiss eine alte Flasche ins Eck, die platzend zersprang. Er hatte seine Stimme laut erhoben, und einige Leute, die um ihn standen, schauten sich erschrocken um. Meist waren keine Patrouillen der Obhut im Moloch unterwegs. Doch zuweilen befanden sich Schleicher, versteckte Regierungsvertreter, unter den Leuten, lauschten und spitzten und horchten, und Tage später verschwand jemand, ward nicht mehr gesehen und wurde stillschweigend behandelt, als hätte er niemals existiert. Sie hätte eigentlich den Mann ignoriert, seine Theorien weggewischt und sich Problemen zugewandt, die weitaus existentieller für sie waren – sie musste etwas zu essen beschaffen, einen Schlafplatz finden. Doch es war ein hoffnungsloser und gedrückter Tag, und wie sie dort stand, hochschwanger, den Bauch mit einer Hand schützend bedeckt, wandte sie sich ohne weiter darüber nachzudenken dem Mann zu, ergriff vielleicht eine letzte, eine dumme Chance, zu entkommen. Sie sprachen eine Weile miteinander, und indem sie ihn weiter mit Schnaps versorgte, erzählte er ihr viel über die Organisation. Es klang toll, es klang unglaublich – und langsam, ganz allmählich, begann wieder etwas Licht in ihr aufzukeimen. Es blieb nur eine letzte Frage. Sie senkte ihre Stimme zu einem Raunen: „Wie nimmt man mit Penumbra Kontakt auf?“
„Das erledigt Penumbra selbst“, stammelte der Mann zurück, um dann theatralisch in ein Delirium aus Schnapsflaschen zu kippen.
Tage später verstand sie. Penumbra nahm Kontakt zu ihr auf. Bot ihr an, einen Platz in der Organisation zu bekommen, und vor allem sich um ihr Kind zu kümmern. Sie musste nicht einmal darüber nachdenken, und ein schlechtes Gewissen hegte sie ebenso wenig wie Reue, denn was hatte sie je mit ihrer Stadt verbunden, und welche Loyalität war sie ihr schuldig?

Das kleine Schloss knackte leise. Eine Abdeckung, die so exakt in die Aluminiumplatte des Schreibtisches eingelassen wurde, dass sie zuvor nicht zu erkennen gewesen war, sprang auf und offenbarte ein kleines Terminal mit einem Dateneingang. Sehr schön. Fast geschafft, dann endlich konnte sie zurück, konnte wieder in die hohen Luftschiffe, in denen Penumbra weit über alle Kontinente verstreut unterwegs war, die so viel länger immer als selbst das höchste Gebäude der Stadt in der Sonne glänzten.

„Sie haben gefunden, was Sie suchen?“
Ihr Herz erstarb, das Bild der Luftschiffe zerfiel vor ihren Augen zu grauer Asche. Sie sprang unter dem Schreibtisch hervor. Jemand knipste das Licht an, und nach kurzem Blinzeln erkannte sie einen alten Mann, der im Türrahmen stand.
„Machen Sie sich bitte keine Mühe, mich angreifen oder flüchten zu wollen. Es ist alles mit einem Energiefeld geschützt, und Ihr kleines Gerät wurde deaktiviert. Die Obhut ist benachrichtigt.“ Er lehnte sich auf einen Spazierstock, und sein Gesicht wirkte beinahe freundlich, wären die gegebenen Umstände andere gewesen. Hinter ihm tauchte eine Frau auf, es musste seine Ehefrau sein.
„Hast du ihn gefunden? Hast du ihn-“ Sie blickte an ihrem Mann vorbei und erspähte Naomi, sog hörbar die Luft ein.
Der Mann fixierte sie weiter und sprach mit warmer Stimme: „Sie sind von der Penumbra, oder?“
„Armes, armes Ding!“, keuchte seine Frau hinter ihm. Naomi schwieg. Ihr Gesichtsausdruck war steif und kalt und blass wie eine Totenmaske. „Möchten Sie eine Tasse Tee, meine Liebe?“, begann die Frau, nachdem sie sich wieder gefangen hatte und drängte sich neben ihren Mann.
Naomi nickte. „Tee“, ihre Stimme versagte, sie räusperte sich. „Tee wäre gut, danke.“
Sie folgte den alten Leuten durch den Korridor. Konnte nicht fassen, was geschehen war. Die Obhut ist benachrichtigt. Sie versuchte, die aufkeimende Panik zu unterdrücken, überlegte, was ihr noch übrig blieb, was sie tun konnte, wie lang sie noch Zeit hatte, bis...

Hinter ihr flogen lautlos zwei Überwachungsdrohnen. Da ihre Geräte deaktiviert worden waren, konnten die Drohnen sie erkennen. Zu fliehen oder das Ehepaar zu überwältigen würde nicht möglich sein, die Drohnen würden sie innerhalb eines Augenschlags liquidieren. Sie war eine Schattenjägerin, deren größter Feind das Licht, deren größte Angst die Entdeckung war. Es war aus.

Offensichtlich im Wohnzimmer angekommen, setzten sie sich an einen Tisch. Die Frau verschwand gleich in das Zimmer nebenan und begann, Tee zu kochen, während der Mann aus den atemberaubenden Panoramafenstern blickte, die eine Seite des Raumes komplett ausfüllten. Wäre die Situation eine andere gewesen, wäre Naomi unendlich fasziniert von dem Ausblick über Sverige gewesen. So aber blickte sie hinaus und konnte nichts sehen. Die Frau kam wieder hineingewankt, mit einem silbernen Tablett in den alten Händen, das sie klappernd auf den marmornen Tisch abstellte. Sie stellte jedem eine Tasse hin und schenkte dampfenden Tee ein.
„Hier, bitteschön.“
Sie nickte und rührte die Tasse nicht an.
„Wie heißt du, meine Liebe? Ich darf Sie duzen, nicht?“ Die alte Frau lächelte sie verständnisvoll an. Naomi starrte immer noch aus dem Fenster, ohne die Aussicht zu sehen. „Wir sind die Luvtströms. Das ist mein Mann Hugo, ich bin Rut. Stimmt es, was mein Mann gesagt hat? Bist du von der Penumbra?“
Naomi schwieg. Starrte. In ihrem Inneren tobte und schrie es. Wie konnte der Auftrag nur schiefgegangen sein? Wieso hatte es nicht die leiseste Warnung gegeben, warum hatte das Schicksal ihr keine Chance gelassen? Oh Amelie...

„Naomi.“
„Bitte?“
„Mein Name ist Naomi.“
„Naomi! Schön.“ Die alte Frau strahlte, als habe man ihr soeben ihre Enkelin präsentiert. „Sag, Kind, was treibt dich dazu, hier einzubrechen?“
„Rut, lass unseren Gast doch erst einmal zur Ruhe kommen und einen Schluck Tee trinken, bevor du sie verhörst!“
Die beiden fingen an sich zu kabbeln wie es nur alte Ehepaare vermochten. Sie lauschte dem Gespräch keine Sekunde. Die beiden widerten sie an. Gleisende Wut, die sogleich von wilder Panik vertrieben wurde. Amelie... Sie konnte an nichts anderes denken. Sie hatte so vieles für ihre Tochter getan, alles geopfert, jeden Weg gegangen, damit sie sie beschützen konnte. Sie konnte nicht fassen, wollte nicht glauben, dass ihr all dies nun genommen werden sollte. Die Angst vor einer ungreifbaren Macht, vor dem Kontrollverlust überwältigte sie. Niemals, niemals würde sie es zulassen, dass Amelie etwas geschehen konnte, sie würde alles, ihren Atem, ihr Leben, ihre Seele dafür geben, dass Amelie geschützt blieb – doch es wurde ihr verwehrt. Sie hatte so viel getan, und nun wurden ihr die Fäden aus der Hand gerissen. Der widerliche, warme Dampf des Tees stieg ihr in die Nase, und sie fühlte sich so hoffnungslos, so verzweifelt wie noch nie in ihrem Leben. Etwas stieg in ihr auf, schnürte ihr die Kehle zu, bedrängte sie, hielt sie fest, wollte sie schreien lassen, wollte losrennen, vergessen, befreien... AMELIE! Es schrie in ihr, ein Raubtier hinter Gittern. Ihr Liebstes genommen, ihre Seele entrissen, ihr Leben geraubt. Konnte nichts tun, konnte nicht denken, konnte nicht fassen, wollte nicht akzeptieren, fühlte sich hilflos, fühlte sich haltlos, eine Leere, ein Dunkel in ihrem Inneren, in das sie stürzte, fiel...

Aus ihren Gedanken herausgerissen wurde sie von einem kleinen Lichtpunkt an ihrem Handgelenk. Der Sensor. Er war nicht tot. Rasch, und unauffällig legte sie eine Hand über ihr Handgelenk und verdeckte ihn. Wenn sie es schaffte... Wenn sie den Sensor wieder vollständig aktivieren konnte... Sie wandte ihren Blick von der Tasse. „Kann ich – wäre es möglich, dass ich kurz austrete?“
Die zwei starrten sie an, als hätten sie vergessen, dass sie noch hier saß. Wut.
„Natürlich, Liebe. Den Gang hinab, die zweite Tür links.“

Wie im Traum lief sie langsam den Korridor hinunter, die zwei Drohnen im Schlepptau. Wenn es bloß funktionierte... Sie wusste nicht, weshalb ihr Sensor sich wieder gestartet hatte, wahrscheinlich war die Technik Penumbras der der Primas überlegen, es war nur eine Sicherheitsabschaltung erfolgt. Sie schloss die Tür hinter sich und begann, den Sensor zu checken. Die beiden Drohnen kümmerten sie nicht, sie waren lediglich darauf programmiert, sie an der Flucht und an Gewalthandlungen zu hindern. Die Kommunikation funktionierte bereits wieder, zumindest konnte sie mit Penumbra Kontakt aufnehmen. Aber wenn es ihr noch gelingen würde, die Anti-Lichtwellen wieder zu aktivieren, konnten die Drohnen ihr nichts mehr tun... Sie schaute sich den Sensor näher an.

Immer wieder blitzte vor ihren Augen das Gesicht ihrer kleinen Tochter auf. Und sie erinnerte sich zurück, wie sie zum ersten Mal die Luftschiffe von Penumbra betreten hatte. Und sie erinnerte sich an das Gefühl der Sicherheit, als sie aus den hohen Fenstern blickte, die Sonne im Gesicht, und über allem schwebte. Und obwohl die Dunkelheit an Schrecken für sie verloren hatte, war es immer noch das Schönste, den Sonnenaufgang in all seiner Stille und Schönheit zu beobachten. Wenn es ihr gelang, den Sensor zu reparieren, wenn sie es schaffte, zu entfliehen... Und sie käme nach Hause, und sie könnte noch einmal den Sonnenaufgang sehen, mit ihrer Kleinen, mit Amelie...

Doch es gelang ihr nicht. Der Sensor reagierte nicht mehr, es blieb nur die Funktion, Nachrichten zu verschicken. Leere. Und Verzweiflung überwältigen sie. Keine Sonne. Keine Amelie. Nichts.
In Trance tippte sie noch einmal auf den Sensor und baute eine gesicherte Verbindung zu Penumbra auf. Sie verschlüsselte die Botschaft und begann zu reden, obwohl es keine Rettung mehr gab. Penumbra würde die Nachricht erst erhalten, wenn es zu spät für sie war...
„Schattenjäger Naomi, Distrikt Sverige, Abschnitt Ebene 43. Mission gescheitert, Liquidation ausstehend. Erbitte einen letzten Gefallen. Ich habe immer treu und mit all meinem Können und meiner Überzeugung für Penumbra gearbeitet. Ich werde Ihnen bis zuletzt treu bleiben. Meine Tochter.“ Sie musste schlucken, holte tief Luft, und fuhr fort. „Ich lasse meine Tochter Amelie zurück, und ich bitte innigst darum, dass für sie Sorge getragen wird. Ich habe gehandelt, um sie zu schützen, und habe gelebt, um ihr ein besseres Leben zu geben. Nehmt mir, nehmt ihr das nicht weg. Gebt ihr, wofür ich gekämpft habe! Ich vertraue darauf.“
Dann fiel ihr etwas ein, ein letzter Funke, der in ihr aufkeimte. Eine letzte Handlung. „Ich möchte die nächsten Worte gerne an Amelie direkt richten.“ Sie lief unruhig im Badezimmer umher, sammelte ihre Gedanken, stellte sich das lachende Gesicht Amelies vor sich vor. „Hei meine Kleine! Na, wie geht es dir?“ Sie strich sich über das Gesicht, raufte ihre Haare. „Du musst mir gut zuhören, kleine Amelie. Ich... bitte sei nicht traurig, sei stark. Stark wie deine Mama. Ich komme nicht mehr zu dir zurück, ich kann nicht. Aber du bist nicht alleine. Du wirst nie alleine sein! Sie werden sich um dich kümmern, so gut wie ich es nie gekonnt hätte. Du bist ein starkes Mädchen. Es wird immer Hoffnung geben, egal wie schwarz die Nacht ist, vertraue darauf! Schaue aus dem Fenster, und warte auf die Sonnenstrahlen, wie sie kommen werden, und die Dunkelheit und die bösen Geister vertreiben. Ich liebe dich, Amelie. Ich bin immer bei dir, meine Kleine, ich bin immer da und beschütze dich, Amelie. Mein Kind der Sonne.“
Ihr liefen Tränen über die Wangen. Sie beendete die Übertragung und schaltete den Sensor ab. Abschied. Ende. Es tat so schmerzlich weh. Hilflosigkeit. Leere. In stummer Trauer schüttelte sie sich, zerrissen.

Bis sie sich ihr Gesicht wusch und ins Wohnzimmer zurückging. Sie hatte getan, was sie konnte. Mehr gab es nicht mehr zu tun. Jetzt hieß es warten – auf das Ende. Das unwirkliche Ehepaar starrte sie erwartungsvoll an, als sie sich wieder an den Tisch setzte. Einen Moment befürchtete sie, man habe entdeckt, dass sie eine Botschaft gesandt hatte.
„Naomi – vielleicht kannst du uns weiterhelfen“, begann der Mann. „Wir haben uns ein bisschen gestritten, aber wir können es uns beide nicht erklären, weshalb du in unser Haus eingebrochen bist. Warum bist du hier?“
Ihr Blick haftete auf den Dächern der Stadt, die schmerzende Leere in ihr füllte sich langsam, wurde mit Hass und Verachtung gefüllt. „Weshalb ich hier bin? Ich bin hier, weil es keinen anderen Weg für mich gab. Ich bin hier, weil ich leben wollte, und nun  bin ich hier, um zu sterben.“
„Es gibt doch immer einen anderen Weg als die Kriminalität.“
„Hugo, denk daran, wer sie ist...“, flüsterte die Frau viel zu laut. „Eine Exiguus...“
Naomi wandte ihren Blick nicht von dem Fenster ab. Primas... früher hätte sie auf dieses Ehepaar nur gespuckt. Mit den Jahren hatte sie gelernt, den anfänglichen Hass in Gleichgültigkeit, und schließlich in Überlegenheit umzuwandeln. Sie waren dumm, die Ultras und die Primas, wie sie in ihren schicken Häusern saßen und Tee schlürften, wie zu ihren Füßen in ihrem Unrat eine Masse an Menschen litt und starb, die sie für minderwertig achteten, während sie selbst der Abschaum der Menschheit waren. Hier oben nannte man die Menschen aus dem Moloch die Exiguus, die Minderwertigen. Es gab Bildungsreisen für Primas und Ultras, organisierte und bewachte Reisen in den Moloch, wo man aus sicheren Luftschiffen durch gepanzertes Glas die Exiguus studieren konnte. Doch man sah es als gerechtfertigt an, wie die Exiguus dort lebten, denn jeder bekam, wonach er strebte, so war ihre Einstellung.
„Mich trieb die Not, zu überleben.“
„Die Not, ja? Aber wie das, Liebe? Wie kann einen die Not in die Arme der Penumbra treiben?“
Sie wandte zum ersten Mal ihre Augen von den Fenstern ab, fixierte die alte Frau scharf. „Ich habe nie gesagt, von der Penumbra zu kommen“, zischte sie. „Ich handele alleine, und ich handele aus Not.“
„Du brauchst uns nicht zu belügen. Jeder weiß, dass alle Gewalttaten und Verbrechen von der Penumbra ausgeübt werden. Dieser garstige, dieser widerwärtige Abschaum!“ Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, sie spuckte angewidert auf den glänzenden Boden. Ein Tröpfen Spucke klebte an ihrer Lippe, und ihr Gesicht wandelte sich wieder zu einem Hort der Freundlichkeit. „Noch etwas Tee, meine Liebe?“ Sie hob ihr zitternd die Kanne hin. Naomis Wut wandelte sich in Verachtung. Sie hob ablehnend die Hand. Und weigerte sich, diesen Tee überhaupt anzurühren, so sehr ekelte es ihr vor dem Porzellanschälchen.
„Ich habe einen Weg eingeschlagen, der mich zu einem besseren Leben brachte, der vielen Leuten ein besseres Leben brachte. Was ihr hier seht, was ihr hier glaub, von der Stadt zu wissen, ist falsch. Man hat euch euer Leben lang Lügen erzählt, damit die wenigen ihren Tee schlürfen und die Massen dafür leiden müssen. Es gibt keinen Unterschied zwischen Primas und Exiguus – außer ihrer Herkunft!“
Die Frau verschluckte sich heftig an einem Schluck Tee und hustete. Der Mann blickte sie traurig an. „Kind. Das sind Lügen. Eingeredet von der Penumbra, durch Gehirnwäsche in deinem Kopf festgesetzt. Natürlich ist es schwer zu akzeptieren, wenn man Exiguus ist, aber es ist unbestreitbar bewiesen, dass jeder das bekommt, was er verdient.“
„Eine Gehirnwäsche?!“ Sie hatte nicht wütend werden wollen, doch sie konnte sich nicht mehr beherrschen. „Ich bin dort unten aufgewachsen, im Dreck, im Elend, in Gewalt. Ich habe gesehen, wozu man Menschen treiben kann, wenn man ihnen alles nimmt, wenn ihr ihnen alles nehmt. Ich wollte nicht länger Teil davon sein. Unsere Stadt schützt nur jene, die hier oben an der Sonne sitzen. Das ist krank! Das ist pervers!“ Sie spuckte die letzten Worte verachtend aus.
Betreten schauten sich die beiden an. Naomi wusste, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, der gerne ignoriert wurde. Dass die Ultras und Primas mit all ihrer Macht doch nichts gegen das Elend, für die Menschen im Moloch unternehmen konnten. Wollten. Was interessierte es die teeschlürfende Minderheit, was unter ihrem marmornen Boden krabbelte?
Dann gab es noch jene anderen, unklaren Gerüchte. Denen Naomi nicht glaubte, nicht glauben konnte. Dass es Penumbra selbst sei. Manchmal sprach man darüber. Wenn man über den Durst getrunken hatte, wenn man sich zu wohl fühlte. Man munkelte, man flüsterte, dass Penumbra in Wirklichkeit alles zusammenhalte. Keine Vereinigung von Terroristen und Gesetzlosen sei, sondern die Weber und Stricker, die Näher und Wächter dieser Welt. Keiner wusste recht, was an diesen Gerüchten dran war, aber man liebte es, zu später Stunde mit leisem Munde darüber zu reden, zu spekulieren und zu diskutieren. Naomi selbst konnte nicht sagen, was diese Gerüchte bargen. Würde es nie erfahren.

Dann öffnete sich die Tür. Ein Kommando der Obhut betrat das Haus, das Ehepaar stand auf, um sie zu empfangen und alles zu erklären. Naomi nutzte die Chance, warf einen letzten Blick auf ihren Sensor. Ein einziges Wort hatte sie empfangen. „Natürlich.“ Eine tiefe Erleichterung durchflutete sie. Danke, oh danke.... Sofort leitete sie die Zerstörung aller Daten und der Technik ein. Dann stand sie langsam auf. Im Gang redete das Ehepaar mit der Obhut.
„...fanden wir sie in meinem Arbeitszimmer. Sie gehört offensichtlich der Pebumbra an, auch wenn sie es nicht zugeben will!“
„Danke, Herr Luvtström. Sie haben vorbildlich gehandelt. Das wird vermerkt.“ Der Anführer protokollierte etwas, tippte schnell auf seinem Datenpad, während zwei Männer neben Naomi traten und sie an den Oberarmen packten und in festem Griff hielten. Sie wehrte sich nicht. „Möchten Sie anwesend sein?“, frage er das Ehepaar.
Die Frau blickte ihren Mann an, als habe man sie gefragt, ob sie ihr Enkelkind ein zweites Mal sehen wolle. Resigniert nickte der Mann. „Ja, gerne.“
„Meine Güte, meine Güte, bin ich aufgeregt! Wenn ich das den anderen erzähle...“
„Exiguus, hast du noch etwas zu sagen?“, fragte der Anführer, ohne sie auch nur anzublicken.
Den Kopf erhoben, das Kinn gereckt, antwortete sie: „Nein. Ich bin fertig hier.“
„Gut. Nehme zu Protokoll –“ er blickte auf seine Uhr – „Liquidation erfolgte exakt um 2.36 Uhr.“ Ein weiterer Mann der Obhut trat auf sie zu.

Ich liebe dich, Amelie. Alles für dich, mein Kind der Sonne. 



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